Worte sind für alle da

„Nein, nein, Sie können nicht bleiben! Das geht nicht!“ sie schüttelte erschrocken den Kopf und versuchte ihn mit losen Gesten zurück in Richtung Tür zu weisen. Die Feuchtigkeit troff von seinem Mantel. Seine dunklen Haare waren gut gekämmt, und wirkten doch etwas zerordnet. Mit dichtem Blick sagte er drängend: „Ich bitte Sie!“ Stumm schüttelte sie abermals den Kopf, als sein Blick über die dampfende Tasse auf dem kalten Fensterbrett glitt. Durch den Nebel nickte ihm eine Traube Rosen wissend zu. „Es ist auch gar nicht nötig, dass Sie bleiben“, sagte sie nun leise. „Sehen Sie, dort draußen gibt es so viele begabte Wortweber. Hier ist wirklich gar nichts Besonderes zu lesen! Halten Sie sich doch an die anderen, sehen Sie…“ Mit schmaler Hand zog sie ein Buch aus dem dunklen Regal, es war klein und dick, mit einem ganz zerschundenen Buchrücken. Sie fuhr sachte die Kratzer im Leder nach, bevor sie das Buch aufschlug und eine Welle Worte über den Tisch fließen ließ. Kurz inhalierte er die angebrochene Geschichte, durchdrang den geöffneten Traum. Er lächelte. Draußen, vor dem schiefen Fenster zur Straße, schlich der alte Krämer herum. Sein kahles Gesicht versuchte einen Blick auf die aufgeschlagenen Buchstaben zu erhaschen, doch aus Angst ertappt zu werden, ging er dann doch schnell weiter. „Das sind wirklich große Worte, aber das reicht mir nicht mehr. Es müssen Ihre sein. Nur hier finde ich Ruhe, nur hier fühlt es sich wie ein Zuhause an.“ In seinen Augen sah sie die Flucht, die Rastlosigkeit. Der Schleier der Realität hatte sie staubig gemacht, der Alltag müde. Sie murrte: „Aber es sind doch meine Worte! Sie werden mir noch alles weglesen, den ganzen Trost, einfach alles.“ Er seufzte. Da begriff sie, wie hungrig er war. Dass er einfach nur ein bisschen mitlesen wollte, sie würde ihn kaum wahrnehmen. „Sind Worte nicht für alle da?“ fragte er verloren und in dem Moment wusste sie, dass sie ihn gewähren lassen würde.

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