Der Morgen zerblinzelte das hölzerne Geländer, als sie die Treppe hinunterging. Ein bisschen Baustellenlärm und kühle Luft drückte sich auf dem Gehweg herum. Die alte, struppige Nachbarskatze stolperte über einen vergessenen Traum. Es war der erste Freitag des Monats, Sonnenlicht glitzerte durch die Baumkronen an der Straßenecke und eine abgerissene Blütenrispe lag auf der Stufe zum August. Sie ging zügig, auch wenn sie es nicht eilig hatte, denn es war noch Zeit bis zur Abfahrt ihres Zuges. Auf einer klapprigen, himmelblauen Vespa brauste eine Frau mittleren Alters an ihr vorbei, mit wehenden Röcken. Sie versuchte die Geräusche der Stadt auszusperren, drückte sich die Kopfhörer in die Ohren und ließ zufallsmäßig Musik anlaufen.
Es war ein kühler, sonniger Morgen; den Sommer hatte er noch in den Fingerspitzen, doch den Herbst schon im Nacken. Sie war fast schon am Südbahnhof angekommen, als ihr ein Mann winkend entgegen kam. Eigentlich wollte sie weitergehen, keine Lust angebettelt und vollgequatscht zu werden, außerdem sah er etwas abgerissen aus. Irgendwas an seinen Gesten ließ sie aber doch die Musik aus den Ohren ziehen, als er auch schon fragte, wo er denn ein Taxi fände. Dass sie wohl eher auf der anderen Seite des Bahnhofs stünden ließ ihn murren, fahrig schlackerten die Arme in die Luft, er wirkte verwundbar. Eine leichte Fahne. Irgendwie kamen sie dann doch in ein Gespräch, Vorurteile vergessen, Berührungsängste weggewischt. Er hatte lockige Haare, ein dunkler Typ, die harte Nacht stand ihm ins Gesicht geschrieben. Weil sie nicht spontan mit ihm frühstücken wollte, sondern zur Arbeit, legte er seine Geschichte wie ein Kartenblatt langsam vor ihr aus. Er begann mit dem Joker, schlug die Hände vor das Gesicht und sah sie schockiert an. Ob sie eigentlich wisse, was ihm gerade passiert wäre, denn er könne es kaum glauben. Der Mann fixierte sie, als sei sie schuld an alledem und beschwor sie, ihm zu glauben. „Ich habe nichts Schlimmes gemacht, ich habe keine Bank ausgeraubt, Du musst mir das glauben!“ Sie wurde stutzig, glaubte, der Kerl spinne wohl etwas, hätte auf jeden Fall ganz gut getrunken, wirkte zum Glück harmlos, nundenn. Sie verfluchte einmal mehr, dass jeder ihr fraglos seine Lebensgeschichte erzählte, alle Probleme vor die Füße legte, egal ob Freunde, Bekannte oder Wildfremde. Noch während sie das dachte, beschwor er sie, es keinem zu erzählen und öffnete langsam seine Bauchtasche.
Erschrocken vor Überraschung entglitt ihr ein Schrei, den er sofort zu beruhigen versuchte. Wie dort Geldschein an Geldschein lag, in Rollen gebündelt, unfassbar viel! „Ich habe noch nie so viel Geld auf einmal gesehen“ dachte sie, während er zeitgleich sagte: „Ich habe noch nie so viel Geld besessen!“ und sie dabei gleichermaßen geschockt, fassungslos und ungläubig anstarrte. Er wirkte so durcheinander, dass sie vorschlug, sich einmal kurz zu setzen, kurz zu quatschen, wieder klar zu kommen. Der Club an der Ecke hatte hölzerne Fensterbretter, auf die man sich setzen konnte. Sie waren übersäht mit Stickern, belanglosen, politischen, „Keine Regeln“ war ihr liebster, im Schriftzug von „Kinderriegel“. Er wollte eine rauchen, was kiffen, frühstücken und einen Schnaps, am besten alles gleichzeitig. Sie wiegelte kurz ab und wollte endlich diese unglaubliche Geschichte hören. Wie zur Hölle kam man an so viel Geld?

Er erzählte stockend, mit geweiteten Augen, er hätte da wohl scheinbar was im Casino gewonnen, mit einem Kartendeck. Alle Leute wären total wütend gewesen, weil sie nicht glauben konnten, dass er noch nie Karten gespielt hatte. Er beteuerte, er hätte höchstens mal etwas Geld mit Computer spielen gewonnen, aber mit Karten noch nie. Er schüttelte wieder fassungslos den Kopf, zog die Tasche auf, murmelte, er sei reich und wieder erblickte sie die vielen grünen und braunen Scheine. Auf die Frage, wo das war und wieviel – verdammt noch mal – wieviel Geld das eigentlich sei, wusste er keine Antwort, außer der, dass er noch nie Glück gehabt habe. Er hätte für alles kämpfen müssen, das Abi, die Ausbildung, denn seine Mutter würde in der Pflege arbeiten und sie hätten es nicht so leicht gehabt. Er war so durcheinander. Den Vorschlag, seine Mutter zum Essen einzuladen von dem Geld, fand er im ersten Augenblick grandios und im nächsten verzog er das Gesicht und meinte, sie würde ihn so nerven. Wie Mütter ihre Söhne nunmal nerven, die irgendwie ihren eigenen Weg gehen und dabei vielleicht einen anderen wählen, als den, den die Gesellschaft vorgezeichnet hatte. Warum man überhaupt arbeiten solle, was dieses ganze Scheiß-Hamsterrad eigentlich bringe, das fragte er sie, als sie überlegte, ob sie nicht doch zum Zug und zum Büro musste.
Er selber wusste noch nicht, wie er weitermachen sollte, er war ja jetzt reich. Ein wenig lachten sie darüber, dass er all das viele Geld in einer Fake-Gucci-Tasche hatte, und noch mehr lachten sie, als er ihr seine Fake-Rolex zeigte mit dem Kommentar, er würde sich nur manchmal was gönnen. Aber mit dem vielen Geld jetzt sollte sich nichts ändern. Er wollte der bleiben, der er war. Vielleicht doch nicht mit dem Taxi Heim fahren, sondern mit der Bahn, ganz normal halt. Eben, am Barbarossaplatz, da hatte er einem Obdachlosen ein Frühstück spendiert. Er könne jetzt doch auch noch nicht nach Hause, nicht nach dieser Nacht. Erst jetzt fiel ihr die große Bäcker-Tüte auf, in die mehrere Lagen Kuchen gestapelt waren. Ohweh, dachte sie lächelnd, hoffentlich ist er nicht zu achtlos, so durcheinander wie er ist. Immer wieder hatte er seine Gucci-Tasche aufgezogen, um zu schauen, ob diese unfassbare Menge an Geld dort immer noch drin war.
Doch sie sprach die Sorge nicht aus, schlug nur vor, ein paar Freunde von ihm anzurufen, damit er nicht allein sei, nach dieser Nacht, in all dem Durcheinander aus Gefühltem und Erlebtem. Er schüttelte verächtlich den Kopf. Er fühlte sich allein gelassen, nie sei jemand da gewesen, als es ihm schlecht ging und warum sollte man dann so einen Moment mit diesen Freunden teilen? Seine Bitterkeit setzte ihr einen Kloß in den Hals. Wie einsam und traurig musste man sein, wenn man einen Batzen Geld gewinnt, aber keinen hatte, mit dem man das feiern könnte?
Entsetzt bemerkte sie, dass seine Bauchtasche die ganze Zeit offen gestanden hatte. Dass er auch noch so unvorsichtig war! Er fummelte fahrig zwischen den Scheinen herum, als wolle er zählen, wieviel Schatz da so zwischen seinen Händen hindurchblätterte. Der Gewinn betrug sicher mehrere Tausend Euro. „Wo sind eigentlich meine 200er? Ich hatte doch 200er?“ kramte er, den Kopf nach unten geneigt. Sie gestand, dass sie gar nicht wusste, wie 200€-Scheine überhaupt aussahen. „Gelb. Die sind gelb“ meinte er mit der selbstsicheren Ruhe eines Erwachsenen, der ein Kind daran erinnert, welche Farbe Sonnenblumen haben. Da waren keine gelben Scheine, zumindest konnte sie in den dicken Bündeln keine gelben Scheine ausmachen, nur grüne, braune und ein paar blaue. Ob er Geld verloren oder jemand ihm in die Tasche gegriffen hatte? Der Wind, ein vorbeieilender Fremder, eine Gestalt der Nacht, der er zu viel Vertrauen geschenkt hatte?
Aus dem Augenwinkel sah sie auf der anderen Straßenseite einen jungen Mann vorbeigehen, etwas zerordnetes Haar, Studententyp, eine Augenbraue erhoben grinste er sie wissend an. „Jetzt mach‘ endlich Deine Tasche zu, sonst verlierst Du noch etwas!“ raunte sie ihm zu, doch er war immer noch nicht ganz in dieser Welt angekommen. Sie kniff ihn, schlug ihn an die Oberarme, damit er endlich in die Wirklichkeit auftauchte, realisierte, das sei alles wirklich passiert, das sei wirklich alles seins. Er nestelte unbeholfen am Reißverschluss seiner Gucci-Tasche, gefüllt mit dieser absurden Menge Geldscheine. Er musste hier weg.
Sie hob den Arm, als sie ein Taxi heranfahren sah. Gemächlich bog es in die kleine Straße ein, als sei hier alles ganz normal, als gäbe es hier nichts zu sehen, als hätte der Fahrer sowieso schon die unmöglichsten Geschichten in dieser Stadt erlebt. Nur widerwillig stieg der traurige Glückspilz ein, einsam wie kein Zweiter. Der schnauzbärtige Taxifahrer schaute sie fragend an, nickte aber gelassen, als sie anwies, da müsse einfach nur jemand sicher nach Hause. Ein Typ, wie jede Nacht sie zuhauf ausspuckte, im Eilen zum nächsten Morgen verlor. Die in Richtung Bett gebracht werden mussten und dabei alles Elend ihres Daseins im Taxi lassen wollten, im Handschuhfach verstauten, als hätte der Fahrer noch Verwendung dafür. Und der Taxifahrer, er konnte zuhören, geduldig.
Sie verabschiedete sich. Sie wusste nicht einmal seinen Namen. Als ihr das bewusst wurde, hatte sie sich schon abgewandt und steuerte auf den Bahnhofseingang zu. Das Taxi überholte sie noch einmal im Schritttempo. Durch das geöffnete Fenster konnte sie sehen, wie der dunkel gelockte Beifahrer sich vorsichtig in Richtung des Fahrers beugte und raunte „Ich habe nichts Schlimmes gemacht, ich habe keine Bank ausgeraubt, Du musst mir das glauben!“