Nun sitze ich hier, kurz vor 3 Uhr Nachts, die Füße haltsuchend auf dem kalten Küchenfußboden abgestellt und warte, dass sich ein neues Schlaffenster auftut. So nennen das die Profis, Schlafforscher, wenn einem ein wilder Traum, rastlose Gedanken oder ähnliches nachts den Schlaf rauben. Man kann nicht mehr einschlafen, weil der Schlaf in Fenstern kommt und geht, und steckt man außerhalb eines Schlaffensters, so hat man halt Pech gehabt. Da muss man dann wach bleiben, bis sich ein neues Schlaffenster auftut. Da hat man auch keinen Einfluß drauf, wann und wie dieses Schlaffenster kommt und ich weiß auch nicht, ob man dort nicht regelmäßig die Scheiben putzen sollte, um es vielleicht etwas milde zu stimmen, damit man sich in der Nacht nicht allzulange mit Wachheit und Warterei rumquälen muss.

Mir gegenüber sitzt der Himmel und starrt mich wissend an. Er hat einen heimeligen, blassdunkelgrauen Morgenmantel übergeworfen, damit es nicht ganz so düster ist in dieser letzten Rauhnacht mit den ungezähmten Träumen. Fast alle Fenster sind schlafen gegangen, hinten im Innenhof. Vorne an der Straße hingegen, wo nur die Stuben der rechtschaffen arbeitenden Leute wohnen, da ist alles dunkel. Im Hinterhof sind zumindest zwei Fenster wach. Entweder wartet man dort auch darauf, dass sich ein Schlaffenster öffnet, oder es gibt noch etwas wichtiges zu erleben. Im Giebelfenster im vierten Stock zum Beispiel, dort sieht es noch ein wenig nach Getanze aus und das kann man den jungen Leuten doch auch mal gönnen. Parterre ist Herr Rills wieder vor dem Fernseher eingeschlafen. Der Innenhof nimmt die blauzuckenden Lichter dankbar als Geschenk, um sie in sein übliches Nachtgehabe einzubauen. Die anderen Fenster schlafen.
Außer das von Frau Bürge. Sie sitzt zusammengeschrumpelt und abgehärmt am Küchentisch, vor sich ein Glas Wasser. Bei Herrn Bürge hätte da ein Glas Schnaps gestanden, oder wenigstens ein Bier, denn ohne das konnte er das Warten auf Schlaffenster oder andere Lebenslösungen nicht verbringen. Am Ende war es eine ganze Flasche Schnaps gewesen, bis Herr Bürge jedes Leben aus sich herausgesoffen hatte und er von seiner Frau (und wenigen Nachbarn) in schattige Erde gebettet wurde. Da war der gemeinsame Sohn schon sechs Jahre tot. Ein betrunkener Autofahrer war in ihn und seine anderen 27jährigen Freunde einfach hereingefahren, als sie nichtsahnend am Straßenrand standen, 4 junge Menschen, einfach ausgelöscht. Jetzt saß Frau Bürge da, nachts, Mann tot, Sohn tot und ich bin mir nicht sicher, ob ihr Leben überhaupt noch Schlaffenster hat oder ob alle von der Trauer aufgebraucht wurden.
So ein Leben will doch keiner leben, zurückgeben müsste man das, murmelte sie einmal, als sie an mir vorbeiging und grüßte mich dann doch gutbürgerlich. An normalen Werktagen hat ihr Gesicht so wenig Lächeln, dass keiner weiß, ob sie es nicht ganz verloren hat. Es sei denn, Strumpfband kommt vorbei. Strumpfband ist ein Streuner, ein struppiger Kater, dessen linkes Ohr schon ziemlich mitgenommen aussieht, und am Rücken fehlt auch eine Stelle des braungrauen Fells. Niemand weiß, warum der Kater Strumpfband heißt, aber ich vermute, er wurde mal absichtlich in unserer Straße verbummelt, damit Frau Bürge ihr Lächeln nicht ganz verlernt. Strumpfband wärmt sich gern auf dampfenden Gullideckeln auf, wenn es kalt ist. Dann lässt er sich von Passanten steicheln und rasselt sein etwas abgenutzt klingendes Altkaterschnurren.
Frau Bürge stellt ihm morgens immer ein Schälchen Wasser und einen alten Unterteller mit etwas Katzenfutter neben die Eingangstür. Strumpfband hat im Morgengrauen schon unter einem Auto auf diesen Moment gewartet. Jedes Mal bevor er anfängt zu essen, streicht er einmal um Frau Bürges Beine. Und dann erinnert sie sich an ihr Lächeln. Es geht dann ausnahmsweise über die Lippen und sogar hoch bis in ihre Augen. Dann lächeln die Stadtnachbarn auch, wenn sie im Vorrübergehen Frau Bürge einen guten Morgen wünschen.
Gerade, während ich das schreibe, taucht etwas mehr Nacht in den Hinterhof, denn bei Frau Bürge ist das Licht ausgegangen. Also ist es nun Zeit, die Geschichte zu beenden. Wenn sie ihr Schlaffenster gefunden hat, dann finde ich vielleicht auch meines.
Entweder schreibst du immer, wenn du eigentlich auf ein Schlaffenster wartest, oder deine Müdigkeit und 3-Uhr-Nachts-Gedanken halten dich nicht davon ab, in diesem schillernd fließenden Stil zu schreiben den ich so beeindruckend finde – und der schillernd ist obwohl was er beschreibt so weit weg von dir und deinem kalten Küchenboden ist, dass es für dich sicher grau aussah.